Warum nur hat sie dieses Buch geschrieben?

Das Buch „Aus die Maus“ von Zaklin Nastic erscheint in unruhigen Zeiten. Zum einen befindet sich DIE LINKE, für die Zaklin im Bundestag sitzt, in existentieller Not – gekennzeichnet durch Wahlniederlagen und Mitgliederschwund. Zum anderen haben die Finanz- und Wirtschaftskrise und die Pandemie die soziale Spaltung weiter verschärft – es gibt immer mehr arme Menschen und immer mehr Superreiche. Ressourcenknappheit, globale Wettbewerbe, Grenzkonflikte und innerstaatliche Machtfragen befördern zudem weltweit Kriege. Und nicht zuletzt die Rechtsentwicklung in vielen Staaten sowie die Auswirkungen des Klimawandels stellen große Herausforderungen für linke und zivilgesellschaftliche Institutionen und Bewegungen dar. Anhaltend wirkt sich der Bedeutungsverlust der Repräsentation aus. Warum nur hat sie dieses Buch geschrieben? weiterlesen

Meine Großväter

©privat

UPDATE 19.12.21, siehe neuer fünfter Absatz

Meine Großväter Alfred, geb. 1911, und Johann (geb. 1904) waren Mitglieder der NSDAP. Ich habe ihre Parteiausweise vor kurzem als Kopie aus de Bundesarchiv erhalten. Johann habe ich nicht kennengelernt. Er starb, als ich ein paar Monate alt war. Alfred war fester Bestandteil meiner Kindheit und hat auch noch seine beiden Urenkelkinder kennengelernt, bevor er 1988 an einer Krebserkrankung gestorben ist. Er war ein ruhiger, friedfertiger Mensch, der manchmal aus seiner Kriegsgefangenenschaft Geschichten erzählte. Lustige Erzählungen. Alfred war zudem Mitglied der Waffen-SS. Wohl auch deswegen steckten ihn die Alliierten ins Lager.

Meine Oma berichtete andere Dinge aus dieser Zeit: Über den Hunger, das Hamstern und ihre Angst vor Vergewaltigungen. Über die Besetzung ihres Hauses durch die Amerikaner. Und dass mit 28 Jahren angefangen hatte, zu rauchen – vor Hunger. Auch dass meine Mutter 1940 gezeugt wurde und ihren Vater erst kennenlernte, als sie fünf Jahre alt war. Meine Mutter war eine Hausgeburt, die Füße kamen zuerst und es war einer der heißesten Tage des Sommers 1941. Ich habe mir oft vorgestellt, was das für eine Strapaze gewesen sein muss. Meine Großväter weiterlesen

(Zu) Späte Aufarbeitung

veröffentlicht in publik 1/2020

bauer media group – Lange blieb im Verborgenen, dass die Bauer-Verlagsgruppe von Anfang an die NSDAP mit ihren Zeitschriften, Groschenromanen und mehr unterstützt, sich an jüdischem Eigentum bereichert hat und das bis in die Nachkriegszeit hinein. Jetzt ist der Verlag mit seiner Vergangenheit konfrontiert

„Alfred Bauer … prägte mit seinem verlegerischen Instinkt, wirtschaftlichem Wagemut und Energie die erfolgreiche Entwicklung der Unternehmensgruppe … Seine Leistung und Einsatzfreude wird uns allen Vorbild sein in dem Bemühen, sein Werk in seinem Sinne fortzusetzen“, hieß es in der Mitteilung an alle Bauer-Beschäftigten im Mai 1984, mit der das Management über den Tod des Verlegers informierte. Es sind Worte, die in dieser Form heute vermutlich nicht mehr geschrieben würden. Denn Alfred Bauer, geboren 1898, war NSDAP-Mitglied. Sein Unternehmen beteiligte sich – wie andere auch – an der von den Nationalsozialisten betriebenen sogenannten „Arisierung“. Historiker sprechen rückblickend auch von „Raubkauf“. (Zu) Späte Aufarbeitung weiterlesen

Interview: „Grenzen im Kopf”

Sönke Fock: “Es bleibt immer der schmale Grat zwischen Respekt vor dem Gegenüber und der Privatsphäre und dem, was wirklich für unsere Dienstleistung von Bedeutung ist.”

Es ist Sönke Fock, Chef der Agentur für Arbeit Hamburg (rechts auf dem Bild), ein ganz persönliches Anliegen, Vielfalt am Arbeitsplatz in der Behörde zu leben und gleichzeitig eine neue professionelle Sicht auf Arbeitsvermittlung zu entwickeln. Hier spricht er über seine Motive, Erfahrungen und Forderungen – an sich selbst, an die Arbeitsvermittler*innen, an Unternehmerinnen und Unternehmer. Und welche Chancen vergeben werden, wenn Diversitäten in den Betrieben ignoriert werden.

Interview: Kersten Artus

Herr Fock, warum ist es heute immer noch nicht selbstverständlich, sich als schwul, lesbisch, intersexuell oder transgender im Betrieb zu outen?

Sönke Fock: Das ist leider so, weil viele Menschen sich immer noch fragen, ob damit Nachteile für sie verbunden seien. Oder weil sie glauben, dass Chefin oder Chef wie auch Kolleginnen und Kollegen es nicht akzeptieren. Deswegen sind Grenzen im Kopf und im Herzen, um sich ohne Bedenken zu öffnen.

Sind da wirklich nur Grenzen in Kopf und Herzen?

S.F.: Die Erfahrungen mit Diskriminierungen sind sehr unterschiedlich. Aus Gesprächen weiß ich, dass es nicht oder selten die direkte Ablehnung ist, sondern sie eher indirekt erfolgt. Etwa, indem Kontakte seltener werden oder sich die Kommunikation verändert; oder dass eine gewisse Sprachlosigkeit einzieht. Aber es gibt auch die anderen Erfahrungen. Reaktionen wie „Das wussten wir schon längst, wir haben nur nicht darüber gesprochen“. Oder das Outing wird einfach positiv oder eher beiläufig aufgenommen. Interview: „Grenzen im Kopf” weiterlesen

Johanna

Johanna und Rudi auf meiner Gartenschaukel im Mai 2017

Vor ganz genau zwei Jahren haben mich Rudi und Johanna im Garten sucht. Ende Mai 2017. Es war schön warm und ich hatte die beiden von der S-Bahn abgeholt. Johanna fand es ein wenig verrückt, dass ich diesen Garten hatte, aber sie pflegte auf ihren kleinen Balkon auch immer ein paar Pflanzen und erfreute sich an ihnen, wenn sie an ihrem Schreibtisch saß. Ihr Bett stand genau gegenüber der Balkontür an der Wand, sodass sie gleich beim Aufwachen darauf schauen konnte.

Johanna lebt nicht mehr. Sie starb letzte Woche mit 83 Jahren. Als ich es erfuhr, musste ich in den Himmel schauen, vermutete sie instinktiv dort, und sagte zu ihr: “Warum hast Du mir nicht Bescheid gesagt, wie schlecht es Dir ging? Warum haben wir uns nicht noch einmal getroffen? Johanna weiterlesen

Petra

Vor sechs Wochen hatten wir auf der Terrasse unseres Vaters gesessen. Ich erzählte aus meinen Erinnerungen, wie wir Schwestern immer zusammen in die Wanne mussten. Es gab nur ein Handtuch. Petra fand immer wieder einen Dreh, dass sie zuerst aussteigen durfte und damit das Handtuch im trockenen Zustand bekam. Sie schaute mich an: Daran konnte sie sich partout nicht mehr erinnern. Kein Wunder, dachte ich. Sie, die ewige Siegerin unserer kindlichen Wettspiele, hatte damals viele zu viele Triumphe eingefahren, als dass ihr dieser in Erinnerung hätte bleiben können.

Mir fallen jetzt so viele Geschichten wieder ein. Da war die Sache mit den Tampons: So fragte ich sie einmal, da war ich neun oder zehn Jahre alt, ob die 10er-Packung “o.b.”, die sie hinter der Toilette liegen hatte, für zehn Monate reichen würde. Sie lachte mich natürlich aus. Unvergessen auch, wie sie mich das erste Mal einen Joint mitrauchen ließ. Da saßen wir auf ihrem großen Bett, eine Gitarre und mehrere Kerzenhalter hingen an der Wand, die Vorhänge waren zugezogen. Als ich anfing herumzukichern, beömmelten ihre Freundin Assi und sie sich aufs Feinste. Und als sie ein Mofa bekam, durfte ich mich auch mal drauf setzen, gab Gas  – und landete in der Hecke.

Warum haben wir uns nicht öfter über unsere Kinderzeit ausgetauscht? Wir hatten Jahrzehnte dafür Zeit und haben sie uns viel zu selten genommen. Jetzt habe ich keine Möglichkeit mehr. Meine große Schwester ist tot. Petra weiterlesen

Marlene

marleneMarlene. Eine autobiographische Erzählung.

„Du darfst absolut niemandem sagen, wo ich bin!“ Marlene fixiert Nadine mit ihrem Blick.

Ich nicke, auch wenn ich jetzt schon davor Angst habe, ihrer Mutter zu begegnen, und entziehe mich ihren Augen. Das zerdepperte Sparschwein liegt auf dem Boden. Ich hatte es ihr vor Jahren zum Geburtstag geschenkt. Marlene fischt zwischen der zerbrochenen Keramik Münzen und Scheine heraus.

„Mist“, schimpft sie. Sie hat sich geschnitten. Fluchend rennt sie ins Bad. Ich trenne die Scherben vorsichtig von dem Geld. Zwei Häufchen entstehen. Marlene hat eine Zeit lang Zwanzig-Cent-Stücke gesammelt, die blitzblank aus der Prägung kamen. Und neue Fünf-Euro-Scheine. Die einmal in der Mitte gefalteten Fünfer sehen immer noch aus wie Spielzeuggeld, das Hartgeld glitzert nicht mehr. Heute Abend wird der Schatz geopfert. Ob das Geld für eine Fahrkarte nach Münster reicht?

„Ich habe noch 50 Euro“, rufe ich durch die Wohnung, „du kannst sie haben. Wer weiß, ob du es gleich findest. Vielleicht musst du ein Taxi nehmen.“

„Nein, verdammte Scheiße“, höre ich Marlene schimpfen. Dass sie mein Geld nicht will, hätte sie mir auch anders sagen können. Ich laufe zu ihr. Blut ist auf den weißen Wuschelteppich getropft, der vor dem Waschbecken liegt. Ich wickel ein Pflaster aus und klebe es meiner Freundin um den Finger. Marlene weiterlesen

Hinter Gittern

huberVeröffentlicht im FREITAG, 30. Juni 2016

Sie stapelt die Brotscheiben, als würde sie einen längeren Ausflug planen. Dann umarmt Claudia*, 30 Jahre alt, zum Abschied mit vollbepackten Händen Gisela Huber und sagt: „Du verschönerst uns alle zwei Wochen das Leben.“ Sie sitzt im Frauengefängnis in Hamburg-Billwerder ein, drei Monate hat sich noch. Sie ist eine von derzeit 70 Frauen, die hier ihre Haftstrafen verbüßen müssen.

Zwei Stunden zuvor ertönte eine männliche Stimme aus dem Lautsprecher in der Justizvollzugsanstalt: „Die Rotkehlchengruppe findet jetzt statt.“ Gisela Huber hat die Gesprächsrunde nach ihrem Lieblingsvogel benannt. Die 76-Jährige bietet die Gruppe seit neun Jahren ehrenamtlich zusammen mit einem Bekannten an. Nur zu zweit dürfen sie die Treffen stattfinden lassen. Beide wurden zudem drei Monate lang von einem Verein geschult, der straffällig gewordene Menschen unterstützt. Hinter Gittern weiterlesen

Die Tödin

dsc_9938Weibliches Erbe: Die Theologin Andrea Martha Becker bildet Frauen zu Trauer- und Sterbebegleiterinnen aus. Erschienen im FREITAG, 12. November 2015

Der Tod war früher nicht allein unterwegs. Die Tödin begleitete ihn. Legenden, Gedichten und Sagen zu Folge stritten sie miteinander, führten Zwiegespräche, teilten sich die Arbeit. Tödinnen kennt heute so gut wie niemand mehr. Dabei ist der Tod im russischen und französischen feminin. Die „Santa Muerte“, die Tödin, spielt auch im Totenkult Mexikos und Kubas eine Rolle. Doch selbst bei Übersetzungen ins Deutsche wird er kurzerhand entweiblicht. Die Tödin weiterlesen

Der Ausnahmegewerkschafter

ben-beckerBrecht schrieb: „Das Schicksal des Menschen ist der Mensch.“ Ich habe Rolf Becker oft Brecht-Texte vortragen hören, vielleicht war auch dieser Satz einmal dabei. Wenn ich Texte von Bertolt Brecht lese, höre ich die Stimme von Rolf Becker. Rolf ist aber noch mehr für mich: mein Kollege und Kampfgefährte. Der Ausnahmegewerkschafter weiterlesen